Projekt „Pazifisten und Antimilitaristen aus jüdischen Familien“: Quellenlese 4: Friedensbewegtes Erwachen nach dem Ersten Weltkrieg. – Ausgewählt von Peter Bürger.
Pazifisten und Antimilitaristen aus jüdischen Familien waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert namentlich im deutschen Sprachraum als prominente Wegbereiter der Friedensbewegung oder Aufklärer wider die staatliche Militärpropaganda in Erscheinung getreten. Gleichwohl erhofften sich im Ersten Weltkrieg ungezählte Juden, durch treuen Waffendienst für ihre jeweiligen unterschiedlichen „Vaterländer“ volle Gleichberechtigung und Anerkennung als Staatsbürger erringen zu können. So richteten etwa Juden aus Österreich oder Deutschland ihre Waffen gegen Glaubensbrüder in der Armee des russischen Zarenreiches – und umgekehrt …
Das Leben wurde in die Waagschale geworfen für die Interessen der miteinander konkurrierenden weltlichen Herrscher. Die Feldrabbiner riefen in den verfeindeten Lagern den „Allmächtigen“ an, den jeweiligen obersten nationalen Befehlshabern, ihrer angeblich „gerechten Sache“ und ihren Waffenträgern den Sieg über sogenannte „Feinde“ zu verleihen. Man war also bereit, jüdische Brüder auf der Gegenseite zu töten und sich auch theologisch an jener Blasphemie zu beteiligen, die die „christlichen“ Kriegskirchen schon seit dem Soldatenkaiser Konstantin (gest. 337) in großem Maßstab institutionalisiert hatten.
Sofern sie nicht bereits nach den ersten Massenschlachten besseren Einsichten folgen konnten, mussten die jüdischen Waffenträger in deutschen Landen spätestens nach dem Ausscheiden aus dem Heer erfahren, dass man ihre „loyalen Dienste“ nicht etwa belohnte, sondern vielmehr mit einem gewaltig erstarkten Antisemitismus der Jahre 1919-1923 beantwortete. Auch der in Berlin geborene Journalist, Buchautor und Zionist Cheskel Zwi Klötzel (1891-1951) hatte 1915-1918 als Soldat am Ersten Weltkrieg teilgenommen. Ein Jahr nach Ende des großen Menschenmordens schrieb er den nachfolgend dokumentierten Text, gewidmet seinen jüdischen Geschwistern als dem „ältesten Friedensvolk“: „Wenn in irgendeinem Lande, so ist heute in Deutschland die Notwendigkeit gegeben, sich zu entscheiden: für oder gegen Militarismus, für oder gegen Pazifismus.“
Cheskel Zwi Klötzel: Kriegsende. In: Neue jüdische Monatshefte: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Literatur in Ost und West, IV. Jahrgang, Heft 7-8 (10./25. Januar 1920), S. 141-145.
Kriegsende
(Neue Jüdische Monatshefte, Januar 1920)
Von C[heskel]. Z[wi]. Klötzel
„Der Internationalismus muss den Völkern
zur Glaubenssache werden.“
(Alfred H. Fried).
Kriegsende – denn „Friedensbeginn“ zu schreiben, hieße den Versuch machen, sich selbst und andere zu täuschen. Der Krieg ist zu Ende: war es, als der letzte Schuss fiel, der einem Menschen das Leben kostete, also seit mehr als einem Jahr. Jener Novembertag des Jahres 1918, an dem das Wort „Waffenstillstand“ von Mund zu Mund flog, befreite uns von einem Albdruck. Die Mordwerkzeuge durften nicht mehr wüten, keine Granate mehr Menschen in Fetzen reißen, kein Gas mehr Hunderte ersticken, kein Unterseeboot mehr Schiffe voller Leben in Sekunden versenken, kein Flieger aus schusssicherer Höhe Bomben in volkerfüllte Städte schleudern. Das Blutmeer hörte auf zu steigen, Massengräber, die man auf Vorrat gescharrt hatte, durften geschlossen werden, und – mehr als das alles! – Millionen Männer waren los und ledig der furchtbaren Pflicht, einander zu morden.
Damals war es, als es sich wie ein Schrei der Befreiung aus den gepeinigten Völkern aufschwang. Und wenn am Jahrestag dieser Befreiung in ganz England auf die Dauer von Minuten alles Werk stille stand und jedermann entblößten Hauptes das Andenken der Toten ehrte, so hätte man wünschen mögen, dass statt der britischen Insel die ganze Welt den Augenblick gefeiert hätte, in dem der Fluch der Waffe von ihren Kontinenten genommen wurde.
Man Vergleiche die Stimmung beim Waffenstillstand und beim sogenannten Friedensschluss, nicht nur bei den besiegten, sondern auch bei den siegreichen Völkern, und man weiß, dass die Stunde der Weihe nicht in Versailles schlug, sondern in jenen Schützengräben, vor denen der Tod Halt machte. Man vergleiche, wie man damals – überall – vom werdenden Frieden sprach und wie man heute – überall – vom gewordenen spricht, und man wird inne werden, welche Hoffnungen getäuscht, welche Erwartungen betrogen wurden. Man erinnere sich dessen, was der Völkerbund in der reinen Idee war und was er im politischen Handel geworden ist, und man wird erkennen, welche Aufgaben uns bleiben: aus dem Waffenstillstand die „treuga dei“ der ganzen Welt, aus dem Kriegsende den Frieden zu gestalten.
Es soll hier davon gesprochen werden, wie das Judentum im allgemeinen und das deutsche Judentum im besonderen an diesen Aufgaben mitarbeiten kann. Denn das jüdische Volk als Gesamtheit und der jüdische Mensch als Einzelner haben allen Grund, Pflicht und Recht der Mitarbeit am Wiederaufbau der zerstörten Welt in besonderem Masse für sich in Anspruch zu nehmen. Das jüdische Volk, das diesen Krieg weder gewollt noch veranlasst hat, hat in ihm Opfer gebracht, wie kein zweites. Seine blutigen Verluste bedeuten einen furchtbaren Aderlass und kein Waffenstillstand hat die Ströme jüdischen Blutes zum Stehen gebracht, die heute noch in Russland, der Ukraine, Ungarn fließen, gestern noch in Polen flossen, und morgen vielleicht an andern Stellen fließen werden. Und der jüdische Mensch, unter welchem Banner er immer auch focht, trug schwer an dem Wissen dessen, dass auf der andern Seite Brüder standen, gegen die er die Waffe führen musste. Wenn irgendwen, so muss den Juden der Ekel und das Entsetzen vor dem Kriege, – vor neuen, noch ungeborenen Kriegen, – zu einer Leidenschaft sondergleichen im Denken und Handeln führen, wenn es gilt, die neue Welt zu schaffen, die geschaffen sein will zwischen dem Abend des beendeten Krieges und dem Morgen des ersehnten Friedens.
Denn Frieden, – was wir bisher so Frieden nannten, – wird jedenfalls. Das eherne Gesetz der Gewöhnung lässt langsam aber sicher die Welt ins Gleichmaß ihres Alltags zurückfallen. Nur das ist die Frage: ob dieser Friede der Friede sein wird, von allen gewollt, für alle gemeint, und darum allein wirklicher Friede, nicht Waffenruhe auf wenn auch noch so lange Frist.
Ein wirklicher Friede kann nur inter nationes geschlossen werden: zwischen den Völkern. Die Träger einer Bewegung, die ihn schaffen will, werden in erster Linie diejenigen Menschengruppen sein, die internationalen Charakter haben. Und wenn in diesem Kriege anscheinend alle „Internationalen“ als friedenserhaltende Faktoren versagt haben, so spricht das nur gegen den geringen Grad ihrer zwischenvolklichen Bindung, nicht gegen deren Wert an sich. Dieser Krieg beweist nicht, dass die goldene Internationale des Kapitals, die rote des Sozialismus, die schwarze des Katholizismus, internationale Wissenschaft und Kunst keine Brücken sind, sondern er hat nur erwiesen, dass diese Brücken zu schwach waren.
Die „jüdische“ Internationale, die in der antisemitischen Theorie eine so bedeutende Rolle spielt, ist während des Krieges überhaupt nicht in Erscheinung getreten. Im Gegenteil: was vor dem Kriege vielleicht noch den Anschein einer jüdischen Organisation auf internationaler Grundlage besaß, die Alliance Israélite Universelle, hat sich während des Krieges völlig in ein nicht nur nationales, sondern beinahe chauvinistisches französisches Gebilde gewandelt. Internationale Beziehungen hat während des Krieges nur eine jüdische Gruppe unterhalten: der Zionismus. Und tatsächlich ist er allein imstande gewesen, wenn auch nur in beschränktem Masse, Aufgaben internationalen Charakters zu erfüllen.
Wem es ein Widerspruch scheint, dass das nationale Judentum internationale Möglichkeiten besitzt, verkennt das Wesen des Internationalismus. Was heißt: „internationale Sozialdemokratie“? Es bedeutet, dass unter allen Völkern Menschen leben, deren stärkster geistiger Zusammenhang zwischen ihnen und ihren sozialistischen Genossen in den andern Ländern besteht. Nötig ist also das Vorhandensein einer geistigen Einheit bei gleichzeitiger territorialer Zerstreuung: der Fall, für den das Judentum heute noch als Schulbeispiel gelten kann. An sich wäre denkbar, dass die (national bedingte) religiöse Idee des Judentums diese geistige Einheit schüfe; in der Tat ist nur der nationale Gedanke fähig gewesen, ihr Wirkungsmöglichkeit nach außen zu verleihen.
Es braucht nicht hervorgehoben zu werden, welch starkes Interesse das Judentum daran hat, seine Internationalität zugunsten des pazifistischen Gedankens einzusetzen, sich ihrer bewusst zu diesem Ziele zu bedienen. Dass aller Krieg immer wieder am schwersten das jüdische Volk in seinem Bestand bedrohen müsste, dass Schützengräben und Drahtverhaue, wo immer sie gezogen würden, stets auch die jüdische Welt in „feindliche“ Lager teilten, ist schon gesagt worden. Aber auch im sogenannten Frieden, im Zustand der latenten Kriegsbereitschaft, lastet die nationalistische (nicht die nationale!) Denkweise der Völker auf dem Juden. Denn mit Nationalismus, Militarismus und allen sonstigen Voraussetzungen der heutigen Auffassung vom „Frieden“ eng verknüpft ist jenes Dogma von der staatlichen und volklichen Souveränität, die sich nach außen im Imperialismus, nach innen als nationale und religiöse Intoleranz dokumentiert. Wir brauchen nur an die „Friedens“-Taten der Soldateska in Polen, der Ukraina, an den „weißen Terror“ in Ungarn zu denken, brauchen uns nur zu vergegenwärtigen, welche Rolle bei der antisemitischen Propaganda in Deutschland Offiziere und Soldaten spielen, um zu wissen, dass der Sieg der Friedensfreunde unsere vitalsten Interessen berührt.
Wir haben von diesen Dingen in solcher Ausführlichkeit gesprochen, weil wir uns in bezug auf die Hauptsache kurz fassen möchten. Das Amoralische versteht sich immer von selbst: der Jude sollte Pazifist sein vom Mutterleib her! Einmal als Mensch, der einsieht, dass die Austragung von Gegensätzen durch den organisierten Mord menschenunwürdig ist, mehr noch als Kind eines Volkes, das die Leiden einer nicht pazifi[zi]erten Welt durch die Jahrhunderte erprobt und erfahren hat.
Was also soll geschehen?
Einmal: die Juden aller Länder sollen als Einzelindividuen sich als tätige Mitglieder denjenigen Organisationen anschließen, die legitime Vertreter einer pazifistischen Weltanschauung sind. Sie mögen Sozialisten sein und Sozialismus betätigen, wenn ihnen ihre politische Überzeugung es gestattet. Vermögen sie das nicht, so wird sich wohl in jedem Lande eine Gruppe finden, die, abseits aller Politik, die Politik des Pazifismus zu treiben versucht. Und gäbe es ein Land, wo es wirklich noch an einer Vereinigung der Friedensfreunde fehlt, nun, so mögen die Juden sie gründen und zu ihr die andern aufrufen.
Zum andern Mal: das jüdische Volk als Gesamtes, als nation inter nationes, soll internationale Politik treiben, soll seine territoriale Zerstreuung bei geistiger Gemeinsamkeit benutzen, um den Gedanken des Verbundenseins aller Völker kraftvoll zu propagieren. Den oft zitierten, übertriebenen, verdächtigten, bekämpften jüdischen Einfluss – benutzt, was ihr wirklich von ihm besitzt, im Sinne des Pazifismus! Juden Frankreichs: macht euch eine Ehre daraus, wenigstens in euren Reihen dem Hass zu steuern, mit dem man jenseits des Rheines auf Deutschland blickt! Juden Deutschlands: haltet wenigstens euch rein von dem Glauben, dass jenseits des Kanals Menschen leben, die anders organisiert sind, als ihr! Juden der ganzen Welt: haltet euch fern von dem Unrecht, den Frevel, der an unsern Brüdern im Osten geschieht, den Völkern aufs Schuldkonto zu schreiben, statt denen, die sie zum Chauvinismus, zum Fanatismus, zum Blutrausch erzogen haben.
Schafft eine neue Alliance Israélite Universelle, einen Weltbund friedliebender Juden, und es wird euch nicht an Feinden, aber auch nicht an Freunden, nicht an Kampf, aber auch nicht am Sieg mangeln!
Was soll das deutsche Judentum tun?
Es soll endlich einmal aufhören, à tout prix „loyal“ zu sein, d. h. weder warm noch kalt, je nachdem, wie der Wind weht. Die Beobachtungen, die man unter dem Titel „Das deutsche Judentum vor, während und nach der Revolution“ zusammenfassen könnte, sind so beschaffen, dass man lieber nicht von ihnen spricht.
Wenn in irgendeinem Lande, so ist heute in Deutschland die Notwendigkeit gegeben, sich zu entscheiden: für oder gegen Militarismus, für oder gegen Pazifismus. Es kann keinen Augenblick ein Zweifel darüber bestehen, wie unsere Wahl lauten muss. In Wirklichkeit besteht auch gar kein solcher Zweifel. Aber es genügt nicht, sich im Herzen über etwas einig zu sein, man muss es durch die Tat manifestieren. Die meisten deutschen Juden aber schwingen sich noch heute nicht dazu auf, ihre antimilitaristische, antinationalistische, antireaktionäre Gesinnung in die offene, ehrliche Tat umzusetzen. Sie fürchten, den Antisemitismus zu stärken; in Wahrheit schwächen sie die Kreise, die allein den Antisemitismus zu bekämpfen vermögen. Denn ein Volk aufrichtiger Friedensfreunde kennt keinen Judenhass.
Die Juden in Deutschland gehören in jene Front, die heute in dem schweren und erbitterten Kampf steht gegen die neue Reaktion, den neuen Militarismus, den neuen Chauvinismus, die neue nationalistische Verhetzung. Tut nicht so, als wenn ihr euch, „abgesehen vom Antisemitismus“, mit den „Nationalen“ vertragen, in ihre Reihen treten könntet! Ihr könnt nicht!
Und könntet ihrs: dann müssten alle echten Juden, alle Juden, denen Pazifismus in Anschauung und Gesinnung eingeboren ist als Erbteil ihrer Rasse, wider euch zeugen, als gegen die missratenen Kinder des ältesten Friedensvolkes.