Der Sauerländer Gabriel Stern (1913-1983) war schon vor der Gründung des Staates Israel ein Pionier der Verständigung zwischen Juden und Arabern.
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„Die Sache mit der Naivität ist sehr relativ, und vielleicht wird heutzutage jeder, der irgendwie versucht, nach moralischen und vom Gewissen bestimmten Grundsätzen (die nicht unbedingt mit den normalen, anerkannten Normen übereinstimmen müssen) zu leben, schon als naiv bezeichnet.“ Gabriel Stern.
Der Regionalforscher Hartmut Hosenfeld hat 2013 ein Buch über Gabriel Gerhard Stern aus Attendorn vorgelegt, erschienen als Band V der Reihe „Jüdisches Leben im Kreis Olpe“.(1) Diese Biographie ist jedoch keineswegs nur ein Beitrag zur heimatlichen Erinnerungskultur. Gabriel (Gerhard) Stern gehörte nämlich noch vor Gründung des Staates Israel zu einem Kreis von Einwanderern in Palästina, der sich entschieden für eine friedliche Verständigung zwischen Arabern und Juden einsetzte. Der große Philosoph Martin Buber war für ihn Lehrer und Vorbild. Mit der maßgeblichen Biographie „Gabriel, ein unbekannter Stern aus Attendorn“ stellt Hosenfeld einen Sauerländer vor, dessen Zeugnis für die Menschlichkeit auch angesichts der immer wiederkehrenden Gewalt-Eskalation in Nahost weit über unsere Region hinaus Beachtung verdient. Neben dem aus dem Münsterland stammenden „Gush Shalom“-Gründer Uri Avnery begegnen wir hier dem zweiten bedeutsamen Westfalen im Spektrum der israelischen Friedensbewegung.
Für seine gründlichen Recherchen ist der sauerländische Biograph bis nach Israel gefahren. Sein überaus verdienstvolles, hier zugrundegelegtes Werk erschließt uns eine Persönlichkeit, von der es in einem Zeitzeugnis heißt: „Ein guter Mensch, der alle Menschen achtete.“
1. Ein Kind alteingesessener Sauerländer wird Zionist
Sterns Vorfahren waren alteingesessene Sauerländer, die sich in Lenhausen, Helden und schließlich in Attendorn niedergelassen hatten. Dort führten die Eltern der Mutter das bekannte, später von den Nazis „zwangsarisierte“ Kaufhaus Lenneberg. Henriette Lenneberg heiratete am 8.2.1900 Hermann Stern. Dem Ehepaar wurde am 27.10.1913 als fünftes Kind der Sohn Gerhard geboren. Der Großvater muss noch streng die jüdischen Rituale befolgt haben, was auch durch folgende Überlieferung durchscheint: Einmal wollte ihn ein Bauer frühmorgens sprechen, doch er wurde vom Knecht mit den Worten abgewiesen: „Der Herr ist noch im Geschirr!“ Mit dem „Geschirr“ waren die Gebetsriemen (Tephillin) gemeint.
Am 1. April 1920 wurde Gerhard Stern als einziges jüdisches Kind in die katholische Volksschule in Attendorn eingeschult. Zu Ostern 1924 konnte er auf das Gymnasium am Ort wechseln. Einer seiner Lehrer fragte die Kinder suggestiv, ob sie sich den Kaiser zurückwünschen würden. Gabriel Stern war der einzige, der in der Klasse für die Weimarer Demokratie stimmte. Hierbei, so heißt es in einem Selbstzeugnis, sei sein Widerspruchsgeist geweckt worden:
„Im vergangenen Jahr, genau an meinem Geburtstag, bekam ich ein Glückwunschtelegramm aus meiner Geburtsstadt Attendorn. Die Absenderin war eine betagte Lehrerin. Es stellte sich heraus, dass die Dame zum Einwohnermeldeamt gegangen war, um das Datum zu eruieren – eine durch und durch deutsche Vorgehensweise. Ihr Vater war vor etwa sechzig Jahren mein Volksschullehrer gewesen, und ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet (was sie, die Tochter, zweifelsohne nicht weiß). Der Lehrer, ein alter Deutschnationaler, führte in der Klasse unter den Acht- bis Neunjährigen eine ‚Volksbefragung‘ durch, ‚wer für die Wiedereinführung des Kaiserreichs ist – stehe auf‘. All die gehorsamen kleinen Kinder erhoben sich – außer mir, dem einzigen jüdischen Jungen. Ich allein stand für die Republik ein (natürlich unter dem Einfluss der häuslichen liberalen Erziehung). Der Lehrer blickte auf mich mit Verachtung und deutete – wenn auch nicht explizit – an, dass sich hiermit die Annahme bestätigte, dass es sich um nichts weiter als eine ‚Judenrepublik‘ handele. Wohingegen ich an jenem Tag erstmals zum Nonkonformisten wurde, der ganz bewusst Nein sagt.“ (S. 8)
In einem Brief vom 28.08.1978 an K.H. Klosner lässt Gabriel Stern Leute in Attendorn grüßen und teilt hierbei noch eine Erfahrung seines Bruders aus Kindertagen mit: „Es fällt mir schwer, alle aufzuzählen, vielleicht nur die alte Frau Apotheker Peiffer. Mein Bruder Walter, ein Schulkamerad des jetzigen Apothekers, dem ich über meinen Besuch in Attendorn berichtete, erinnerte sich – nach wohl ungefähr 60 Jahren, wie die alte Dame Kinder, die ihn hänselten, zurechtwies. Ich habe das in einem Artikel als Beispiel dafür erwähnt, dass man seinen menschlichen Regungen, auch wenn sie unmittelbar scheinbar wirkungslose Gesten sind, immer nachgeben muss […].“ (S. 101)
Margret Ursell, Tochter des jüdischen Attendorners Julius Ursell, hat 1988 bei einem Besuch in der alten Heimat über die Gymnasialzeit erzählt: „Gabriel Stern war ein schlechter Tänzer, dafür aber ein gelehrter und begabter Schüler und ein begeisterter Zionist.“ Stern, von einem Schulfreund nur „Stella“ (lateinisch: Stern) genannt, muss sich also schon früh für den Zionismus interessiert haben. Diese Bewegung war seit dem späten 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund des in Europa erstarkenden Judenhasses und der mörderischen Pogromwelle in Russland (1881 u.a.) entstanden. Die Suche nach einer Heimstatt für Juden war die Suche nach einem Ort des geschützten Lebens.
Gleichzeitig muss es auch ausgeprägte religiöse Neigungen gegeben haben. Folgende Berufswünsche aus einem schulischen Lebenslauf von Stern sind überliefert: „Am liebsten würde ich jüdischer Theologe werden, Rabbiner. Aber ich zweifele noch, ob ich die Fähigkeiten und auch die Möglichkeiten in Deutschland dazu habe.“
Immerhin, als Schüler erhielt Gerhard Stern in Attendorn schon Hebräisch-Unterricht – und zwar beim katholischen Religionslehrer des Gymnasiums! Nach dem Abitur im März 1933 wollte er in Freiburg Philosophie studieren, doch man verweigerte ihm nach der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten die Aufnahme an der Universität. Stern, dem eigentlich mehr das Akademische lag, schloss sich einer Pionierbewegung zur Auswanderung an, besuchte einen Einführungslehrgang in Landwirtschaft und durchlief eine bei holländischen Bauern durchgeführte Vorbereitung auf das Gemeinschaftsleben im damaligen Palästina: „Diese Zeit war sehr hart, und ich war offenbar nicht aus dem Holz für Bauern geschnitzt.“
Zu Anfang 1936 wanderte Stern, der nunmehr nur den Vornamen Gabriel trug, nach Jerusalem aus. Er begann dort jedoch nicht mit genossenschaftlicher Pionierarbeit in der Landwirtschaft, sondern schrieb sich in der Hebräischen Universität ein, um Judaistik (Hebräische Sprache, Bibelkunde, Geschichte) und Arabisch bzw. Islamkunde zu studieren. Am Ende hat Stern, der 1938 nur zeitweilig im Kibbuz lebte, keinen Abschluss an der Universität gemacht. In einem Brief aus dem Jahr 1980 offenbart er: „Ich hatte immer Angst vor Prüfungen, und das ist einer der Gründe dafür, dass ich keinen akademischen Grad habe.“ Als anerkannter Hebraist, der zugleich als guter Kenner des Arabischen, des Islams und der christlich-orientalischen Kultur ausgewiesen war, konnte Gabriel Stern jedoch „Anschluss an das hebräische Geistesleben finden“. Das war vielen anderen hochgebildeten Einwanderern seiner Zeit nicht möglich. Der berühmte Theologe Schalom Ben-Chorin wird 1983 in einem Nachruf über Stern schreiben:
„Er war einer der gebildetsten Journalisten seiner Generation. Er schrieb Hebräisch, Englisch und Deutsch, las und sprach fließend Arabisch und verfolgte auch die französische und die russische Presse. Er war ein vorzüglicher Lateiner und konnte die griechischen Klassiker im Original lesen. Auf vielen Gebieten der Politik, der Religion und des Geisteslebens war er zu Hause. […] Gabriel Stern wurde 1913 in dem kleinen Ort Attendorn im Sauerland geboren, wo es nur eine winzige jüdische Gemeinde gab, die im Haus seines Großvaters ihre Miniatur-Synagoge hatte. Es waren nur noch Rudimente einstiger jüdischer Tradition, die sich in diesem halbländlichen Milieu erhalten hatten. […] Hebräisch lernte Gabriel Stern bei dem katholischen Katecheten am Gymnasium in Attendorn, und er lernte es gründlich.“ (S. 127)
2. Im Kreis friedensbewegter Zionisten – Mitarbeiter Martin Bubers
Im frühen Zionismus zeigte eine einflussreiche – demokratisch und auch pazifistisch geprägte – Fraktion schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts einen wachen Sinn für die Erfordernisse einer friedlichen Zukunft. Man war sich sehr bewusst, dass Araber schon dreizehnhundert Jahre in Palästina lebten. Die frommen zionistischen Friedenstheologen erinnerten an die Propheten Micha und Jesaja: „Denn von Zion wird Weisung ausgehen […]. Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Kein Volk wird gegen das andere das Schwert erheben, und sie werden fortan nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“ Schon 1925 wurde unter Vorsitz von Arthur Ruppin der Brit-Shalom (Friedensbund) gegründet, der sich für ein friedliches Zusammenleben von Juden und Arabern sowie die Gründung eines binationalen jüdisch-palästinensischen Staates einsetzte. Diese Anliegen wurden dann in der 1942 gegründeten „Ichud“ (Union, Einigung) auf breiterer Basis weiterverfolgt.
Ziel der Bewegung, so Hans Kohn, war ein Gemeinwesen, „in dem beide Völker ohne Vorherrschaft des einen und ohne Bedrückung des anderen in voller Gleichberechtigung zum Wohle des Landes arbeiten“. In den 1920er Jahren konnte man sich das „Heilige Land“ gar visionär als Zentrum eines zukünftigen Völkerbundes vorstellen.
Zu den Zionisten, die sich in dieser geschwisterlichen, übergreifenden Richtung orientierten, gehörten sehr viele Wissenschaftler an der Hebräischen Universität in Jerusalem und vor allem auch der 1938 aus Deutschland eingewanderte berühmte Religionsphilosoph Martin Buber. (2) Gabriel Stern aus dem Sauerland wurde einer der engeren Mitarbeiter Bubers. Er wirkte im Rahmen der „Ichud“ und mehrerer Zeitschriften für den jüdisch-arabischen Dialog. Viel später hat Stern auch Schriften Bubers übersetzt (Mitarbeiter bei der Briefedition) (3), in Deutschland einen Vortrag (4) über dessen Verständigungswerk gehalten und einen Beitrag „Judentum und Islam“ veröffentlicht.
Nach dem Trauma des sechsmillionenfachen Massenmordes an den Juden Europas konnten Vertreter einer militanten und nationalistischen Linie im Zionismus ihre Vorstellungen in großem Umfang einbringen – aus naheliegenden Gründen. Ichud-Leute wie Gabriel Stern empfanden die Form der Staatsgründung von 1948 und die damit eingehergehende Militärgewalt als tragisch. Doch sie versuchten als treue Zionisten, weiter ihren Beitrag zum Frieden zu leisten. Martin Buber sagte: „Wir sind zwar durch das falsche Tor in den Staat eingetreten, aber jetzt besteht der Staat Israel, und wir müssen in seinem Rahmen für die Gleichberechtigung der arabischen Minderheit arbeiten.“
Gabriel Stern, der kein Pazifist im strengen Sinne war, hielt zeitlebens an diesem Weg fest. Er hat zwar Dienst im jüdischen Selbstschutz geleistet, soll jedoch nur ein einziges Mal geschossen haben und zwar im Jahr 1948. Am Ende eines langen, schlecht beleuchteten Korridors stand ein Mann vor ihm: „Stern wusste nicht, wie er dahin gekommen war. Er hatte das Gefühl, dass es in diesem Augenblick um sein Leben ging: Einer von ihnen würde das Feuer eröffnen und überleben. Der andere würde sterben. Stern drückte ab. Die Kugel flog direkt in die Gestalt hinein – und zerbrach in tausend Stücke. Es war ein großer Spiegel. Stern hatte auf sich selbst geschossen. Er feuerte nie wieder eine Waffe ab.“ (Rabbi Ben Kamin hat dieser Geschichte 2009 folgende Weisung entnommen: „Lass jeden Soldaten in einen Spiegel blicken, bevor die Welt ein Scherbenhaufen ist. Lass jeden Soldaten das Gewehr niederlegen: einer nach dem anderen.“)
Der israelische Historiker Tom Segev erzählt in seinem Buch „1967 – Israels zweite Geburt“ noch eine weitere, bezeichnende Geschichte: „Ein kleiner Junge fragte einmal Gabriel Stern, was eine Grenze sei? Eine Grenze, antwortete Stern, ist eine Linie, aber sie trennt nicht die guten von den schlechten Menschen. Gute gibt es auch auf der anderen Seite. Nur wissen diese nicht, dass auch auf unserer Seite gute Menschen leben: Und deswegen haben wir Krieg.“
3. Journalist bei der linken Zeitung „Al Ha-Mischmar“
Ab 1948 arbeitete Gabriel Stern hauptberuflich als Chefkorrespondent der linkszionistischen Tageszeitung „Al Hamishmar“ und kritisierte gemäß der Linie seines Lehrers Martin Buber die offizielle Politik des Staates. Tom Segev schreibt darüber im Vorwort zum Buch von Hartmut Hosenfeld (S. 8):
Als er für die Zeitung „Al Ha-Mischmar“ zu arbeiten begann, blickte er bereits auf mehrere Jahre gemeinsamer politischer Arbeit mit J. L. Magnes, dem Präsidenten der Hebräischen Universität, und Martin Buber, dem Philosophen, beide vom „Brit Schalom“, dem „Friedensbund“, zurück. Als Journalist wurde Stern dafür eingespannt, jeden zu beschützen, den die Behörden schlecht behandelten: jüdische Immigranten aus arabischen Ländern und Angehörige von Minderheiten, Muslime wie Christen. Später wurden ihm Medaillen und Ehrenabzeichen verliehen für seinen Kampf für die Menschenrechte und sein Bemühen um Verständigung, und am liebsten war ihm die Urkunde, die ihn zum Ehrenbürger des arabischen Dorfes Abu Gosch (5) bei Jerusalem machte. Er wollte alle Menschen vereinigen. Nachrichten, die die Konfrontation, die Kluft und die Feindschaft widerspiegelten, unterschlug er mehr als einmal und ignorierte sie sogar, als glaubte er, er könne dadurch den Frieden mehren. Viele Exklusivmeldungen hatte er dadurch nicht. Doch der Humanismus von Gabriel Stern war bei aller moralischen Tiefe auch sehr politisch und sehr realistisch.
Bisweilen floss auch ein untergründiger Spott über Kollegen in seine Meldungen, so in folgender Notiz aus den 1950er Jahren: „Unser politischer Korrespondent hat aus Quellen, die den UN-Beobachtern nahe stehen, erfahren, dass es heute Nacht auch im jordanischen Teil stark geschneit hat.“ Zu Sterns Ressortaufgaben gehörten u.a. die Berichterstattung aus dem Stadtparlament, die Vermittlung des vielfältigen religiösen Lebens von Christen und Muslimen in Jerusalem und speziell auch eine Auswertung der lateinischen Vatikan-Zeitung. Seine Gabe des Zuhörens und der Begegnung sowie eine große Sympathie für das orientalische Leben sind zuverlässig bezeugt. Originelle Alltagsreportagen und Porträts gehörten zu seinen Stärken. Er setzte sich – z.T. mit sehr unkonventionellen Mitteln – für Minderheiten und Benachteiligte ein, denn dies habe ihn schon sein Vater im sauerländischen Attendorn gelehrt.
Von Jutta Schwerin stammt folgende Skizzierung zu dem eigenwilligen Journalisten: „[…] Unten, in dem großen Zimmer links von der Eingangshalle, wohnte der Journalist Gabriel Stern aus Westfalen. Sein Zimmer war vollgestopft mit alten Zeitungen, und von den bunten Ornamenten der Fliesen, die den Boden zierten, sah man kaum mehr etwas. Die Papierstapel reichten bis zur Decke hinauf. Der sechsunddreißigjährige Mann mit der dicken Hornbrille stand täglich und lange am schwarzen Telefon in der Eingangshalle und diktierte Artikel an seine Redaktion in Tel Aviv. Gabriel arbeitete für die linkszionistische Zeitung Al Ha-Mischmar, die unter der politischen Losung ‚Zionismus, Sozialismus, Brüderlichkeit‘ erschien. Gleichzeitig gehörte er zu den Gründern der Organisation Ichud, die sich für einen arabisch-jüdischen Staat einsetzte, in dem keine Gruppe die andere dominieren sollte. […] Wegen seiner pazifistischen Artikel wurde Gabriel Stern einmal von rechtsradikalen Terroristen überfallen und verprügelt. Dann sperrte man ihn verletzt in eine Kiste und stellte ihn auf der Ben-Jehuda-Straße ab, wo man ihn erst nach Stunden fand. Darüber sprach er fast nie“ (S. 75).
Wegen seines Einsatzes für die Brüderlichkeit unter allen Völkern und Religionen hat ein arabisches Dorf in Israel Stern zum Ehrenbürger ernannt (s.o.). Zu seinen Auszeichnungen zählen außerdem der Journalistenpreis der Hauptstadt Jerusalem, ein Bürgerrechtspreis „für seine lebenslange Bemühung um die Rechte von Araber und Juden“ und eine Ehrung durch das Israel Interfaith Committee (interkonfessioneller Dialog). Das Martin-Buber-Institut der Hebräischen Universität Jerusalem verlieh nach seinem Tod jährlich einen „Gabriel Stern Memorial Prize“ zur Förderung von Frieden und Koexistenz in Israel. – Viele Zeitzeugen haben die friedensbewegten Zionisten wie Stern später als Phantasten abgetan. Nach Jahrzehnten der Gewalt kann man heute aber auch mit gutem Recht den Standpunkt vertreten, sie seien schon 1948 die einzigen wirklichen Realisten gewesen.
In einem Brief an Brief vom 27. April 1973 an Wolfgang Thomä, dem seit der Schulzeit befreundeten Sohn des evangelischen Pfarrers von Attendorn, schrieb Gabriel Stern über sich selbst: „Ich war auch während der Unruhen von 1936-1939 und dem Krieg 1947/1948 und danach immer wieder im Reservedienst eingestellt, meist mit starken inneren und äußeren Vorbehalten. Ich war immer aktiv in Bemühungen um jüdisch-arabische Verständigung, wenn auch nicht immer aktiv genug, aber immer unter prinzipieller Bejahung des Zionismus Buberscher Prägung. […] Dagegen war und bin ich ein entschiedener Gegner israelischer und palästinensischer Vergeltungsaktionen, und gehörte 1938 zu einer Initiativgruppe ‚Du sollst nicht morden‘, die nicht ohne Erfolg eine jüdische Terrorwelle gegen Araber einzudämmen suchte. Es gab also hier in Israel für Juden doch Gewissenskonflikte zwischen Humanismus und Chauvinismus.“ (S. 79-80)
In einem anderen Briefzeugnis von 1976 berichtet Stern: „Ich habe freundschaftliche Beziehungen zu der ‚Aktion Sühnezeichen‘, die eine segensreiche Tätigkeit ausübt. Die meisten jungen Leute dort sind jetzt Kriegsdienstverweigerer. Irgendwie paradox: Deutsche Antimilitaristen in dem doch stark militärischen, wenn auch nicht militaristischen Judenstaat“ (S. 68).
Auffällig ist, wie unbefangen der links stehende Gabriel Sterns auf Vertreter gegnerischer Positionen zuging und etwa in der Familie eines politisch rechten Juden aus Marokko wie ein Familienmitglied verkehrte. Er war offenbar ein Meister der Begegnung zwischen Menschen. Doch viele Zeitgenossen haben den ledigen Journalisten (6) auch als einen Einzelgänger wahrgenommen, von dem sie so gut wie nichts Privates erfahren konnten.
Hartmut Hosenfeld hat in seiner Biographie unglaublich viele Zeugnisse über Stern zusammengetragen, aus denen ich hier einige markante Aussagen zitieren möchte:
Walter Laqueur: „Er lächelte oft, aber wer ihn ein wenig besser kannte, der wusste auch, dass er im Grunde ein einsamer und trauriger Mann war, ohne Familie und mit nur wenigen Freunden, geschweige denn Freundinnen. Er hatte sein Leben der jüdisch-arabischen Zusammenarbeit gewidmet und spielte in diesen Kreisen während einiger Jahre eine nicht unbedeutende Rolle“ (S. 60). – Gideon Spiro: „Trotz der gemeinsamen Arbeit als Journalisten bei ein und derselben Zeitung war Gavriel Stern, wenn es um sein eigenes Persönliches ging, immer sehr zurückhaltend. Gavriel blieb zeitlebens Junggeselle. Für mich waren einige unklare Seiten in seinem Leben. Aber darüber, über das Persönliche, kann ich keine Informationen geben“ (S. 71). – Yitzchak Schorr: „Alle Besucher der Mapam Filiale waren Gavriels Leser. Ich hörte von ihnen freundschaftliche Lobworte für Gavriel. Sein Verhalten war persönlich und nicht hochtrabend. Trotz allem war Gavriel einsam, ein ewiger Junggeselle […].Ich glaube, dass die Einsamkeit auch seiner Gesundheit Schaden zufügte und zu seinem frühen Tod mit 70 führte.“ „Als Person war er weich, delikat und fast vornehm; er war ein herzlicher Mann, aber sehr naiv. Wichtig war für ihn nicht der politische Alltag, sondern die Beziehung zwischen den Menschen, zwischen Juden und Arabern.“ (S. 74; S. 146) – James Yaakov Rosenthal, Vorsitzender des Israelischen Presseverbandes, am 25.5.1983: „In der privaten Sphäre war er, sagen wir, extremely lonesome, obgleich darunter vielleicht Menschen, die sich ihm nahe fühlten, mehr litten als er selbst. Seiner Bahre folgten Menschen aller Richtungen, ein Konzentrat des politischen und intellektuellen Jerusalemer ‚Who is who‘.“ (S. 133) – Marcel Saluk, ein befreundeter jüdischer Friseursalonbesitzer mit marokkanischer Herkunft: „Viele Freunde, und trotzdem allein. Er war auch ein bisschen seltsam, wie viele kluge Menschen.“ (S. 137) – Der Historiker Tom Segev: „Ich habe viel von Gavriel gelernt, aber leider habe ich ihn nie nach persönlichen Dingen gefragt, und er hat sich auch nie dazu geäußert. […] Gavriel war ein Phantast, ein guter Mensch, der niemandem etwas zu Leide tat und alle Menschen achtete. Bei Gavriel hatte man immer das Gefühl, dass er etwas Besonderes leisten wollte. Eine Art von Minderwertigkeitskomplex, der wahrscheinlich schon auf seine Kindheit als jüngster Sohn der Familie mit zwei älteren Brüdern und der älteren Schwester zurückzuführen ist. Dabei stand Gavriel doch so gerne im Mittelpunkt.“ (S. 143-144)
Uneinigkeit herrscht darüber, ob Gabriel Stern denn nun ein „frommer Mann“ gewesen ist. Sein Lehrer Martin Buber sprach von dem „Ewigen Du“, das in den Begegnungen der Welt durchscheint oder vernehmbar ist, aber nicht als Besitz dingfest gemacht werden kann. Die Frömmigkeit von hebräischen Humanisten wie Stern wird demjenigen wohl verborgen bleiben, der nach einem plakativen und lauten Gottesbekenntnis sucht.
An Gabriels Sterns Beerdigung nahmen 1983 viele Menschen aus gegensätzlichsten politischen und weltanschaulichen Lagern Teil, die sich sonst kaum einmal freundlich gegrüßt hätten. Zugegen waren auch der große Pädagoge Ernst Akiba Simon, Jerusalems Bürgermeister Teddy Kollek, der ehemalige Bürgermeister Mordechai Isch-Schalom, Viktor Schem-Tow (Generalsekretär der Partei MaPaM), Repräsentanten der armenischen, katholischen und protestantischen Gemeinde, der deutsche Propst Jürgen Wehrmann, ein Vertreter der Aktion Sühnezeichen, zahlreiche Zeitungskollegen und viele politische Freunde.
1995 wurde erstmals darüber diskutiert, eine Straße in Attendorn nach Gabriel Stern zu benennen. 1999 konnte dieser Vorschlag verwirklicht werden. (7)
Anmerkungen
(1) Hosenfeld, Hartmut: Gabriel, ein unbekannter Stern aus Attendorn. Gerhard Gabriel Stern (1913-1983). = Jüdisches Leben im Kreis Olpe Band V. Attendorn 2013. – Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Biographie, wenn kein anderer Titel vermerkt ist!
(2) Vgl. Hosenfeld 2013, S. 58: „Seit seiner Einwanderung nach Palästina bemühte sich Buber um eine gute Verständigung zwischen dem jüdischen und dem palästinensischen Volk. Schon in Deutschland war er der Gruppe ‚Brith Schalom‘ beigetreten. Im Jahr 1921 hatte sich Buber beim XII. Zionistischen Kongress in Karlsbad mit folgendem Statement an die arabischen Völker gewandt: ‚An diesem historischen Scheideweg, da wir in das Land unserer Väter zurückkehren, verkündet das jüdische Volk seinen Wunsch, mit den Arabern in Frieden und Brüderlichkeit zu leben und das gemeinsame Heimatland zu einer Völkergemeinschaft zu entwickeln, in der sich beide Völker entfalten können.‘ Diese Resolution wurde allerdings von mehreren Kommissionen umgearbeitet und verwässert. Verärgert zog sich Buber bis 1947 aus der praktischen Politik zurück.“
(3) Buber, Martin: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, hrsg. und eingeleitet von Grete Schaeder in Beratung mit Ernst Simon und unter Mitwirkung von Rafael Buber, Margot Cohn und Gabriel Stern. 3 Bände. Heidelberg: Verlag Lambert Schneider 1972ff.
(4) Stern, Gabriel: Martin Buber unter Juden und Arabern. In: Licharz, Werner (Hg.): Dialog mit Martin Buber. (= Arnoldshainer Texte 7). Frankfurt a.M. 1982, S. 401-421.
(5) Vgl. Hosenfeld 2013, S. 114: „Die Geschichte von Abu Gosh, einer Kleinstadt, die dreizehn Kilometer westlich von Jerusalem liegt, ist ungewöhnlich. Im Krieg von 1948 schlugen sich die arabischen Bewohner auf die jüdische Seite und widerstanden der Belagerung der palästinensischen Izzadin-al-Qassam-Brigaden auf den umliegenden Bergen. Im Unterschied zu der palästinensischen Bevölkerung in anderen Dörfern wurde in Abu Gosh niemand vertrieben. Die Araber in Abu Gosh handelten so, weil sie weiter mit den Juden zusammenleben wollten und weil es wirtschaftlich für sie Vorteile hatte, mit der Folge, dass dort der arabische Suq sich zum Handelszentrum der Region entwickelte.“
(6) Zitat in Hosenfeld 2013, S. 64: „Ich bin Junggeselle geblieben wie nicht wenige meiner Schicksalsgenossen. Die große Mehrheit der Flüchtlinge und Immigranten, besonders im Kibbuz, hat aber wie es so der Weg der Welt ist, geheiratet.“
(7) Zur weiteren Erinnerungskultur am Ort vgl. Hosenfeld 2013, S. 103: „Eine Gedenktafel zur Erinnerung an die Pogromnacht wurde 1988 an der Außenwand des ehemaligen Betraums angebracht, zwölf Stolpersteine für die von den Nationalsozialisten umgebrachten Attendorner Juden wurden im Jahr 2006 verlegt, weitere zwei in späteren Jahren“.
Peter Bürger ǀ 2016