PAZIFISTEN & ANTIMILITARISTINNEN AUS JÜDISCHEN FAMILIEN

Die Aufgaben der Juden im Weltkriege (1917)

Von Eduard Bernstein.

(Nachfolgend wird eine um die einleitenden Abschnitte gekürzte Fassung des Werkes dargeboten ǀ Eduard Bernstein: Die Aufgaben der Juden im Weltkriege. Berlin: Erich Reiss Verlag 1917. – Unser Bibliotheks-Projekt hat soeben eine umfangreiche Sammlung von Bernsteins Schriften zum Weltkrieg veröffentlicht.)

I. ǀ
Es gab eine Zeit, wo viele Juden die Meinung hegten, es sei der Beruf ihres Volkes, das über kein eignes nationales Heimatland verfügt, sondern als Gast unter den Nationen lebt, diesen durch Beispiel die Pflege des reinen Gottesglaubens zu vermitteln. Eine religiöse Propaganda, wie Christen und Mohammedaner sie betrieben, war ihnen, die man ja bloß duldete, verboten. Sie mußten zufrieden sein, daß man ihnen erlaubte, auf ihre Weise ihre Religion auszuüben, durften aber nicht daran denken, Angehörige der herrschenden Konfession von dieser abtrünnig zu machen und zu ihrem Glauben zu bekehren. Während ganzer Jahrhunderte war das Verleiten zum Übertritt ins Judentum sowie dieser selbst mit schweren Strafen bedroht, oft mit der Todesstrafe, und da der Jude aus vielen Rechten der Landeskinder ausgeschlossen war, war außerdem die Verführung, zum Judentum überzutreten, für den Angehörigen der herrschenden Nationalität nur gering. Versprach doch die jüdische Religion den Bekehrten nicht einmal jene ewige Seligkeit, welche das Christentum und der Mohammedanismus ihren Gläubigen in Aussicht stellten.
So konnte das Judentum nicht durch Bekehrung zum Glaubenswechsel, sondern nur durch Anstoß zur Glaubensreinigung eine Einwirkung auf die Bekenner der in den zivilisierten Staaten anerkannten Religionen ausüben. Und das wurde mit Anbruch der neueren Zeit das Ideal solcher Juden, die sich von den religiösen Beengtheiten der Masse ihrer eigenen Stammesgenossen befreit hatten. Der Jude, dessen Gottesglauben in keiner Hinsicht mehr etwas mit der Vorstellung von einem besonderen Stammesgott zu tun hatte, sah in den Dogmen der christlichen und mohammedanischen Konfessionen Verunreinigungen der großen Idee eines einzigen, die ganze Welt umfassenden höchsten Wesens und erblickte in dieser Verunreinigung die Folge der Vermischung jener erhabenen Idee mit heidnischen Vorstellungen, den Urquell der Trennung der Menschen in sich feindselig gegenüberstehende und oft sich bekämpfende Religionsgemeinschaften. So daß die konfessionellen Gegnerschaften und Gehässigkeiten in dem Maße abnehmen müßten, als die Religionen von jenen Beimischungen wieder gereinigt würden. Dazu aber hätten die Juden durch die Pflege der reinen Gottesidee beizutragen. In ihr könnten sich alle religiös gesinnten Menschen zusammenfinden. Sein von allen heidnischen Dogmen freier Gottesglaube mache den Juden zum geborenen Mittler in der religiösen Welt.
Ein bestechender Gedanke, der aber nur in Ausnahmefällen Verwirklichung fand. Ihm stellten sich für eine Wirksamkeit allgemeinerer Natur verschiedene Umstände in den Weg. Auf der einen Seite verlegte das Judentum durch seine rituelle Abschließung selbst sich die Möglichkeit einer größeren Beeinflussung der Geister der Christenheit, vom Mohammedanismus gar nicht zu reden. Die Abschleifung und Abwerfung religiöser Dogmen ging einen anderen Weg und machte außerdem bei radikalen Denkern auch vor der Gottes-idee nicht halt. Immerhin kann man sagen, daß, wenn auch die Kirchen sich heute noch so gegenüberstehen, daß die eine die andere ausschließt, fast in der ganzen Kulturwelt die Gegensätzlichkeit doch an Schroffheit abgenommen hat und die Masse der Menschen die konfessionellen Unterscheidungen viel leidenschaftsloser auffassen als in früheren Zeitaltern. Insofern sind vor dem Zeitgeist die Juden als religiöse Mittler nun überflüssig geworden. Aber nun kommt das dritte Hindernis, und das ist die Zunahme des nationalistischen Denkens.
Nicht überall und auch nicht in allen Gesellschaftsklassen gleichmäßig, aber doch in ziemlich weitem Umfange hat in der neuesten Zeit das nationalistische Denken als eine die Menschen trennende Kraft sich entwickelt und verschärft. Wohlgemerkt, das nationalistische Denken, das nicht zu verwechseln ist mit dem einfachen nationalen Empfinden. Ihre Zugehörigkeit zu einer besonderen Nationalität haben die Menschen auch früher kräftig genug und obendrein oft recht roh empfunden. Aber dieses urwüchsige nationale Empfinden war naiv, es beruhte nicht auf Überlegung, es fußte nicht auf einer Theorie. Seine Wurzel ist das natürliche Zusammengehörigkeitsgefühl, das den primitiven Menschen in der Horde und später im Stamm beherrscht. Wie die Nation selbst eine Erweiterung des Stammes ist, herbeigeführt durch dessen natürliches Wachstum an Mitgliedern und die freiwillige oder erzwungene Verschmelzung von Stämmen, so ist das nationale Empfinden eine Erweiterung des alten Stammesgefühls und insofern ein Fortschritt. Der Kreis der Menschen, mit denen man sich durch Sprache, Sitten, Einrichtungen, gemeinsame Geschichte und Literatur verbunden fühlt, erfährt eine Erweiterung, er ist nicht mehr an ein enges geographisches Gebiet gekettet. Indem aber das Empfinden diese Erweiterung erfährt, teilt sie sich auch dem Denken mit, wird auch dieses freier, erweitert sich auch der geistige Gesichtskreis des Menschen.
Das war freilich ein langsamer Prozeß, der viele, viele Generationen brauchte und nicht alle Kreise der Nation gleichmäßig erfaßte. Noch heute gibt es selbst in den vorgeschritteneren Ländern breite Kreise in allen Schichten der Bevölkerung, deren nationales Empfinden sich geistig nur wenig vom alten beschränkten Stammesbewußtsein unterscheidet, sich nicht durch weitherzigeres Denken über dieses erhebt. Aber im großen Gang der geschichtlichen Entwicklung, der einen zunehmenden Verkehr der Menschen und einen immer stärkeren Wegzug vom platten Lande in die Stadt zur Folge hat, nimmt die Zahl der Menschen, die beim Stammesgefühl im Denken stehen blieben, von Jahr zu Jahr ab.
Das nationale Empfinden ist bis soweit zwar das Produkt der Geschichte der Menschheit, die kein einfaches Geschehen der Natur mehr ist, aber es ist das natürliche Produkt dieser Geschichte. Das heißt, es mußte sich einstellen, sobald eine bestimmte Höhe der sozialen Entwicklung erreicht war.
Die Geschichte bleibt jedoch nicht stehen. Der Verkehr im Innern der Nationen wuchs sich aus zum Verkehr der Nationen miteinander, und neben das nationale Empfinden trat das internationale Bewußtsein. Wir sagen ausdrücklich neben das nationale Empfinden. Denn solange Nationen mit ihren Besonderheiten von Sprache, Sitte, ökonomischen Interessen usw. bestehen, wird auch das nationale Empfinden nicht aus der Welt verschwinden. Aber es wird und darf nicht Alleinherrscher sein. Soll die Menschheit nicht in ihrer Entwicklung zurückgehen, so muß, wie in ihrem wirtschaftlichen und allgemein kulturellen Verkehr, so auch in ihrem politischen Denken die Internationalität die Nationalität ergänzen bzw. das nationale zum internationalen Bewußtsein sich erweitern.
Diesem, man darf sagen, naturgemäßen Prozeß, zu dem im ausgehenden Altertum das römische Weltreich Ansätze geliefert hatte und dessen Ideologie im Mittelalter innerhalb der Christenheit die römische Kirche vertrat, hat sich, nachdem er im Laufe des 19. Jahrhunderts mit wachsender Kraft sich von neuem kraftvoll Bahn gebrochen hatte, in den letzten Jahrzehnten eine Gegenströmung widersetzt, die sich auf geistigem Gebiet, wie oben bemerkt, als nationalistisches Denken kundgibt. Auch dieses ist nicht von ungefähr da. Es wurzelt in ökonomischen Gegensätzen, in Machtstreitigkeiten und ähnlichem. Aber diese materiellen Ursachen sind Sondererscheinungen der allgemeinen Menschheitsentwicklung, in vieler Hinsicht Krankheitsprodukte oder Auswüchse am großen sozialen Körper der Kulturmenschheit. Wie jedoch der einzelne Mensch durch krankhafte Wucherungen in seiner Entwicklung ernsthaft gehemmt werden kann, so auch die Menschheit durch Überhandnehmen krankhafter Auswüchse und Wucherungen. Das gilt von geistigen Auswüchsen genau so wie von solchen grobmaterieller Natur. Denn die Menschen machen ihre Geschichte selbst, und geistige Strömungen haben schon wiederholt verheerend auf die gesellschaftliche Entwicklung zurückgewirkt.
Das nationalistische Denken ist nicht naiv, nicht das natürliche Ergebnis der großen gesellschaftlichen Entwicklung. Es ist die bewußte Übertreibung des naiven Nationalgefühls im Interesse bestimmter politischer Zwecke. Zwecke, welche entweder direkt im Widerspruch stehen mit der allgemeinen Entwicklung oder sie dadurch gefährden, daß sie auf eine ungesunde Verteilung der Säfte des Gesellschaftskörpers abzielen. So ist z. B., um ein naheliegendes Beispiel heranzuziehen; die Ansammlung von Kapital für den Fortschritt der Gesellschaft notwendig, dagegen kann, wofür wir Anzeichen genug vor uns sehen, die Ansammlung von Riesenkapitalien in den Händen weniger Kapitalmagnaten oder Kapitalistenverbände zu so großen Schädigungen der sozialen und politischen Verfassung der Gesellschaft führen, daß die Dienste, die sie dem Fortschritt leistet, zu ihnen in keinem Verhältnis stehen. Die Erhaltung der nationalen Wehrkraft ist unter bestimmten Verhältnissen notwendig und kann auch dem Volkswohl förderlich sein. Ein Übermaß von Rüstung aber kann schwere materielle und moralische Schäden zur Folge haben. Das nationalistische Denken bewirkt durch Übertreibung des naiven Nationalgefühls dessen Zurückbildung zum Standpunkt des alten, beschränkten Stammesempfinden.

II. ǀ
Der alte Stammesmensch kannte keine geistigen Beziehungen zu Angehörigen eines andern Stammes. Er trat zu andern Stämmen nur durch Vermittlung seines Stammes in Beziehung. Daher traf es ihn auch nicht im geringsten seelisch, wenn zwischen seinem Stamm und irgendeinem Nachbarstamm Krieg war. Dann war eben naturgemäß jeder Angehörige jenes Stammes sein Feind. Zu dieser Denkweise die modernen Kulturvölker zurückzubringen, ist die Tendenz des nationalistischen Denkens. Die Nationen sollen sich bestimmten Nationen gegenüber wieder völlig als Stammesfremde fühlen. Konflikte, die vielleicht nur einen ganz kleinen Bruchteil der Bevölkerung angehen, sollen von der ganzen, Millionen umfassenden Nation als sie alle treffend betrachtet werden, soweit möglich, das Verhalten aller zu allen Angehörigen der andern Nation bestimmen.
Umstände verschiedener Art haben schon vor dem Kriege der nationalistischen Strömung eine Ausbreitung verliehen, die man vor einem Menschenalter für unmöglich gehalten hätte. Unter dem Einfluß des Krieges ist sie zu solcher Stärke angewachsen, daß sie als eine sehr ernsthafte Gefahr für die vor uns liegende Zukunft betrachtet werden muß. Denn die Faktoren, die ihr vor dem Kriege entgegenwirkten und in ihrer Zusammenarbeit sie an Kraft überragten, die unausgesetzt zunehmende Internationalität des Handels und Verkehrs, der wissenschaftlichen Vereine und der Rechtseinrichtungen, und zuletzt, doch nicht zum mindesten, der sozialisti­schen Arbeiterbewegung haben durch den Krieg jener gegenüber an Wirkungskraft erheblich eingebüßt, und der ernsthafte Kämpfer für den Fortschritt der Menschheit blickt umher nach den Kräften, die ihnen ergänzend zur Seite treten und ihrem Werk neue Lebenssäfte zuführen könnten.
Nun ist die Zeit noch nicht lange her, wo das Judentum als ein internationaler Faktor sehr ins Gewicht fiel. Als Händler haben Juden schon im Frühmittelalter sich als Vermittler zwischen den Ländern des Orients und denen des mittleren und östlichen Europa betätigt. Aber da waren es materielle Güter, die ausgetauscht wurden, von einer Vermittlung geistiger Güter durch die jüdischen Hausierer ist wenig die Rede. Im späteren Mittelalter zeichnen sich verschiedentlich Juden als Wissenschaftler aus, am sozialen Leben der Völker, unter denen sie leben, konnten aber mit wenigen Ausnahmen die Juden schon wegen des Vorherrschens ständisch-feudaler Einrichtungen keinen Anteil nehmen, der ihnen ermöglicht hätte, es nennenswert zu beeinflussen. Als aber die ständischen Verfassungen fielen und namentlich als die Ideen der großen französischen Revolution ihren Siegesmarsch durch die Welt nahmen, begann auch für die Juden die Zeit der Teilnahme am öffentlichen Leben. Sie konnte zwar zunächst auch nur geistiger Natur sein, wurde aber grade darum von vielen mit um so größerer Inbrunst und Tiefe geübt. Mit Begeisterung ergriffen die Intellektuellen des Judentums die Ideen der politischen Freiheit und des Weltbürgertums, von denen sie die politische Emanzipation und die soziale wie geistige Hebung der großen Masse ihrer Stammesangehörigen erhoffen zu können glaubten. Beides ist ihnen damals und später von Angehörigen des Alten zum Vorwurf gemacht worden. Es wäre aber gegen alle Natur gewesen, wenn diese Juden anders empfunden, anders gehandelt hätten. Sie mußten infolge ihrer ganzen Lage mit den Befreiungsbewegungen sympathisieren, und sie konnten nicht deutsche, englische, französische usw. Nationalisten im engen Sinne dieses Wortes sein, so lebhaft sie auch sonst mit dem Volk empfanden, in dessen Mitte sie lebten. In dem Maße, als sie am allgemeinen Leben der Nation Anteil nehmen konnten, betrachteten die Juden sich naturgemäß als zu dieser Nation gehörig und damit auch gehalten, die Pflichten des Staatsbürgers gegen sie zu erfüllen. Aber die Zugehörigkeit zu der über die Welt zerstreuten jüdischen Volksgesamtheit bestand daneben doch noch fort und wurde durch Blutbande oder andere Verbindungen persönlicher Natur, die über die Grenzen hinausreichten, dem Bewußtsein lebendig erhalten. So konnten die Juden tatsächlich ein verbindendes Element für die Völker der Kulturwelt werden, was den deutschen Juden insbesondere auch dadurch noch erleichtert wurde, daß sie in stärkerem Verhältnis als diese Völker selbst sich fremde Sprachen aneigneten. Es fiel ihnen eine Rolle als Mittler der Nationen zu, die auch verschiedentlich mit Bewußtsein ausgefüllt wurde.
In hervorragender Weise hat es für Deutschland der große Dichter Heinrich Heine getan, dessen Erinnerung die deutschen Nationalisten unserer Tage am liebsten als die eines „Vaterlandslosen“ in die Hölle der Verdammten bannen möchten. Heine war nicht vaterlandslos. Er fühlte sich durchaus als Deutscher. Aber er blieb sich auch seiner jüdischen Abstammung bewußt, und da er mit dem Judentum als Konfession keine Beziehung hatte, stärkte dieses Bewußtsein sein weltbürgerliches Empfinden. Als Deutscher und Weltbürger wirkte er literarisch in Frankreich, wo er so lange im Exil gelebt hat. Vermittler deutschen und französischen Geistes wollte er sein, und ist er auch in glänzender Weise gewesen. Er hat den Franzosen, und weiterhin anderen Nationen, tiefere Einblicke in die besten Seiten deutschen Denkens und Wesens gegeben als irgendein anderer deutscher Schriftsteller vor ihm.
„Wem verdanken wir die stille Vorliebe, zu der die meisten von uns sich für das Deutschland der vorbismarckischen Periode bekennen würden? Es ist angebracht, von Kant, Goethe und Beethoven zu reden. Aber wir haben den Verdacht, daß es tatsächlich die Spöttereien und Scherze, die Empfindungsweise und das Heimweh des Exilierten Heine sind, nach denen die meisten von uns sich ihr geistiges Bild vom romantischen Deutschland zurechtgemacht haben. Der erste Jude in der europäischen Literatur, der es wagte er selbst zu sein, entdeckte er die Idee Deutschlands, wo andere nur versucht hatten, Deutsche zu sein.“
So heißt es in einem Aufsatz über jüdischen Patriotismus, den die Londoner Wochenschrift „Nation“ in ihrer Nummer vom 8. Juli vorigen Jahres (1916) veröffentlicht hat. Der Aufsatz knüpft an ein soeben erschienenes Buch Israel Zangwills an, das vom gegenwärtigen Weltkrieg handelt. Was da über Heine gesagt wird, enthält sicher ein großes Stück Wahrheit. Ja, es bleibt sogar noch in einem Punkt hinter der Wahrheit zurück. Heine hat dem Ausland nicht nur Verständnis für das Wesen der Deutschen im allgemeinen vermittelt, er hat ihm auch die Großtaten der deutschen Philosophie in meisterhafter Darstellung verständlich gemacht. Die Kapitel in seinem zuerst französisch erschienenen Buch über Deutschland, die von der deutschen Philosophie handeln, werden noch heute von Fachleuten als in ihrer Klarheit und Prägnanz ganz ausgezeichnet betrachtet. Überhaupt war Heine mehr als bloß Dichter. In seinen sich so leicht lesenden Aufsätzen und verschiedenen seiner Gedichte steckt sehr viel ernste wissenschaftliche Arbeit. Das setzte mir einmal kein Geringerer als Friedrich Engels in einem Gespräch über Heines Atta Troll auseinander. Und was Heines Judentum anbetrifft, so blickt es in dessen Rabbi von Bacharach, in seinen hebräischen Melodien, in seinen Bemerkungen über Spinoza und verschiedentlich sonst sehr erkennbar durch. Heine hat wiederholt über jüdische Gepflogenheiten gespottet, wie er über Fehler der Deutschen sich lustig gemacht hat. Aber mitten in Äußerungen, die wie Lästerungen lauten, erklingen dann immer wieder Töne, die erkennen lassen, wie sehr der Dichter sich als denen zugehörig fühlt, die er eben noch verspottet hat. Selbstironie ist ja kaum bei einem zweiten Volk so stark vertreten wie bei den Juden.

III. ǀ
Von Zangwills Buch nun sagt der Aufsatz der „Nation“, daß er England einen ähnlichen Dienst leiste, wie Heine ihn Deutschland geleistet habe. Es kommen in jenem Buch die geteilten Empfindungen zum Ausdruck, mit denen die Juden in fast allen nichtdeutschen Ländern dem jetzigen Krieg gegenüberstehen: Sympathie für die demokratisch-liberalen Länder des Westens gegenüber dem militaristisch-bureaukratischen Deutschland, Parteinahme für dieses und Österreich gegenüber dem Judenpogrome züchtenden zarischen Rußland. „Die gleiche Mischung von warmem englischen Patriotismus mit einer sehr viel weniger korrekten Stellung gegenüber dem Verbündeten im Osten“, heißt es an einer Stelle von Zangwills Stel­lung­nahme zum Krieg. Aber der Verfasser des Artikels der „Nation“ ist weit davon entfernt, Zangwill aus Letzterem einen Vorwurf zu machen. Das Empfinden ist ihm zu natürlich, um auch nur einer Entschuldigung zu bedürfen. Er lobt es im Gegenteil an Zangwills Buch, daß es auch in bezug auf England nicht in den billigen nationalistischen Patriotismus verfällt, in dem in allen Ländern heute Juden sich ergehen. „Seine besondere Funktion ist“, schreibt er rühmend von ihm, „dem England der Kriegszeit, dem England des Militärzwangs und des Gesetzes über die Landesverteidigung das ideale England der alten Freiheiten vorzuhalten.“ Und er setzt hinzu:
„Es geschieht das mit einer Schärfe des Eindringens, die kein Wahrheitsverkünder englischer Rasse erreichen könnte, denn es geschieht mit weltbürgerlicher Einsicht und ererbter Erfahrung. Es hat den ‚Ansiedlungsrayon‘ im Hintergrund, und in ihm hören wir das tief greifende Urteil eines Volkes, das seine Freiheiten nicht für zugesichert erachten kann. In dieser Haltung liegt aber mehr als nur die seelische Bedrängnis eines Patrioten. Inmitten einer Zivilisation, die durch die Ausschreitungen ihrer nationalen Leidenschaften zerrissen ist, kehrt dieser Wortführer einer Rasse, der das Schicksal die Nationalität versagt hat, mit Leidenschaft zu seinem weltbürgerlichen und friedenspolitischen Ideal zurück.“
Wenn die jüdische Rasse, heißt es weiterhin, sie selbst zu sein wagte, so wäre sie „dazu geschaffen, die Nichtigkeit der Gewalt zu begreifen und zu predigen.“ Aber nur das Genie wage es, es selbst zu sein. Der Durchschnittsjude dagegen suche einen Stolz darin, sich durch Mut in einer der Armeen zu empfehlen.“ Gewiß, und sofern einer nicht auf dem Standpunkt des unbedingten passiven Widerstandes steht, läßt sich auch prinzipiell nichts dagegen sagen. Viele Juden begnügen sich aber nicht damit. Sie glauben in Deutschland deutscher, in England englischer, in Frankreich französischer sein zu müssen als der einfache Deutsche, Engländer, Franzose.
Schon vom Patriotismus des Juden der vorigen Generation für sein Wirtsland sagt der Artikel der „Nation“ mit Recht, er sei immer etwas königlicher als der König es gewesen.
„Der Patriotismus des Juden der vorigen Generation zu seinem Adoptivland war ebenso konventionell, wie er aufrichtig war, und neigte einer künstlerischen Akzentuierung und Übertreibung der nationalen Züge zu. In London brüllte er in den Personen der jungen Löwen des ‚Daily Telegraph‘, während er in Köln mit der ultrabismarckischen Rauheit der ‚Kölnischen Zeitung‘ brummte. Uns gab er die Glanzseiten des Disraelischen Imperialismus, in Frankreich posierte er im Royalismus des ‚Gaulois‘, und in Ungarn trat er auf als der ausschweifende Magyarismus des ‚Pester Lloyd‘.“
Jetzt erleben wir das in verschärfter Gestalt. Ein Dichter jüdischer Abstammung war es, der in Deutschland eine Hymne des Hasses schrieb, in der dem deutschen Volke ewiger Haß gegen England schlechthin gepredigt wurde. Es geschah im Taumel, als alles um den Dichter herum besessen war, und wird heute vielleicht schon von ihm bedauert. Indeß hätte es ihm doch nicht möglich sein können, wenn er einen Begriff davon gehabt hätte, daß dem Abkömmling von Juden in dieser, von nationalem Hader zerrissenen Welt durch die Geschichte seines Volkes eine besondere Mission zugewiesen ist. In gleicher Weise ward der Haß des Deutschen gegen andere Nationen verfochten in dem Korrespondenzblatt derjenigen jüdischen Studentenvereine Deutschlands, deren Mitglieder es den deutschen Korpsstudenten im sogenannten Pauken (Duell mit Rapieren) gleichzutun suchen. Man konnte glauben, ein Blatt fanatischer Rassepolitiker vor sich zu haben, wenn man eine Nummer dieses Blattes durchlas. Auswüchse des Übernationalismus finden sich gewiß auch bei Juden in Ländern der Gegenseite, im ganzen aber scheinen diesmal die deutschen Juden die Juden anderer Länder in Bezug auf ihn überboten zu haben. Die Assimilation ging in dieser Hinsicht hier so weit, daß man in einer deutschen Zeitung, deren Eigentümer Juden sind, an deren Spitze als Leiter des Unternehmens ein Jude steht und deren Chefredakteur Jude ist, einen Entrüstungsausbruch darüber lesen konnte, daß die Engländer durch das Bündnis mit Rußland Verrat geübt hätten – nicht etwa am Fortschritt, an der Sache der Freiheit, nein, Verrat an der „germanischen Rasse“. In eben demselben Blatt wurde jedoch bald darauf und wird noch andauernd Stimmung gemacht für einen Sonderfrieden Deutschlands mit eben dem zarischen Rußland auf Kosten der Länder Westeuropas. Auf noch stärkere Bekundungen eines solchen Übernationalismus bin ich in persönlicher Unterhaltung gestoßen.
Dieses vollständige Vergessen der Tatsache, daß man einem in der Welt als Gast vieler Völker lebenden Volke angehört, ist ein großer Nachteil für die Sache der europäischen Kultur. Ich bin kein Zionist, ich fühle mich zu sehr als Deutscher, um es sein zu können. Aber ich kann den Zionismus als Gegenwehr gegen die staatliche und soziale Zurücksetzung begreifen, der die Juden selbst in vorgeschrittenen Ländern noch begegnen, und bin nicht blind dagegen, daß das idealistische Element im Zionismus einen Wert für das kulturelle Leben darstellen kann. Auch bin ich der Ansicht, daß der Zionismus in keinem notwendigen Widerspruch steht zum weltbürgerlichen Denken, vorausgesetzt, daß der Zionist kein Chauvinist des Judentums ist, und Weltbürgertum nicht gleichgesetzt wird mit roh materialistischem Weltbummlertum. Wer aus Genuß- oder Gewinnsucht, anders ausgedrückt: aus Bequemlichkeit vaterlandslos ist, ist Weltausbeuter, aber nicht Weltbürger. Denn alles wahre Bürgertum – das Wort Bürger nicht im Klassensinn, sondern einfach als die Bezeichnung für die als Recht niedergelegte Zugehörigkeit zu einem bestimmten größeren Gemeinwesen verstanden – ist mit einem Pflichtbewußtsein verbunden. Der echte Weltbürger ist derjenige, der für die Welt, d. h. für die große Familie der Völker, schaffend tätig zu sein sucht, was er aber nur durch Vermittlung von Gliedern dieser Familie wirkungsvoll ausführen kann.
In diesem Sinne kann der zionistische Jude so gut wie der deutsche, der englische, der französische Jude weltbürgerlich denken und handeln, und sollte er es auch tun. Auf die nationalen Kämpfe unserer Zeit angewendet, heißt es, daß der Jude, welcher staatlich organisierten Nation er auch angehört, mit der Erfüllung der Pflichten gegen diese Nation stets auch die Aufgabe verbinden sollte, ein Mittler der Nationen zu sein. Ihm kommt es zu, der Völkerverhetzung jeglicher Art, allen Auswüchsen des Nationalismus nach besten Kräften entgegenzuwirken. Das sollte ihm die Geschichte des Volkes, dem er entstammt, das sollte ihm die Stellung des Judentums in der Welt zur natürlichen Richtung seines weltpolitischen Denkens, die Erinnerung daran, daß das Judentum als ein Ganzes Mitbürger aller Völker ist, zum elementaren Pflichtgebot machen.

IV. ǀ
Die Aufgabe ist heute sicherlich keine leichte und mag den einzelnen Juden, je nach dem Volk, in dessen Mitte er lebt und mit dem er daher naturgemäß stärker empfindet, wie er ja auch, ob er es erkennt oder nicht, tatsächlich in hohem Grade materiell mit ihm solidarisch verbunden ist, in einen anscheinenden oder auch tatsächlichen Gewissenskonflikt bringen. Auch gibt es für sie keine unter allen Umständen gleichlautende Formel. Unmöglich kann der Jude in einem Staate, wo er nur als Bürger zweiter oder dritter Klasse anerkannt und allen möglichen Mißhandlungen ausgesetzt ist, die gleichen Empfindungen für diesen Staat haben, die der Jude, der in einem Staate lebt, wo solche Unterschiede nicht mehr bestehen, für Staat und Land hegen wird. Das ubi bene ibi patria kann ich nicht ohne Vorbehalt unterschreiben. Es kommt eben dabei doch sehr darauf an, was man unter bene versteht. Soll es lediglich das platte materielle Wohlergehen bezeichnen, so hat mir der Satz zu viel von jener Anschauungsweise in sich, die ich gemäß der sozialistischen Auffassung als Bourgeoisgesinnung sehr gering einschätze. Der sozialistischen Auffassung entspricht es vielmehr zu sagen, wo ich am besten wirken kann, da ist mein Vaterland. Die Möglichkeit zu wirken, sich als ein Gleicher nach seinen besten Kräften für das Gemeinwesen betätigen zu können, gehört aber für jeden, der nicht dem bloßen Gelderwerb und dem materiellen Genuß lebt, zum Wohlbefinden, und so wird in der Tat sich bei Juden nur dort ein vollständiges Vaterlandsgefühl zum Unterschied vom einfachen Heimatsempfinden, mit dem es oft verwechselt wird, entwickeln, wo ihnen jene Rechte zuerkannt sind.
In diesem Geiste ist beiläufig auch der viel, aber so oft unrichtig zitierte Satz aus dem Kommunistischen Manifest zu verstehen, wo der Vorwurf, die Kommunisten wollten das Vaterland abschaffen, mit den Worten zurückgewiesen wird: „Der Arbeiter hat kein Vaterland, man kann ihm nicht nehmen, was er nicht hat.“ Mit dem Wort Vaterland ist stets der Begriff eines Rechts an dem Lande verbunden, auf das es sich beziehen soll, sowie ein volles Einleben in seine Kultur. Wo solches Recht und solche Teilnahme an der Kultur fehlen, hat man wohl einen Heimatsort oder eine Heimatsgegend, aber kein Vaterland. So daß auch der Sinn für politische Pflichten dort naturgemäß ein anderer ist als in Ländern, wo gleiches politisches Recht und Teilnahme an der Kultur verbürgt und in Wirkung getreten sind.
Dieser Abhängigkeit des politischen Pflichtgefühls in seinen Abstufungen vom Grade der Teilnahme an Recht und Kultur gibt der streitbare Niedersachse Johann Heinrich Voß in bezug auf ein verwandtes Thema kräftigen Ausdruck, wenn er in seinem Gedicht „Die Leibeigenen“ diese entrüstet ausrufen läßt:
„Was, auch Treue verlangt der übermütige Zwingherr!“
Auch in dem Dichterwort:
„Die fremden Eroberer kommen und gehen,
Wir gehorchen, aber wir bleiben stehen“
kommt ein ähnlicher Gedanke zum Ausdruck. Zur Zeit der Klassiker und Nachklassiker der deutschen Dichtung war eben auch das Bürgertum noch politisch entrechtet, und die Rückwirkung dieses Rechtszustandes auf die seelische Beziehung des Bürgers zum Staat spiegelt sich in den verschiedensten Wendungen in den Dichtungen der Epoche wieder. Ebenso bei den Philosophen der Zeit. Niemand hat kühler, man könnte fast sagen, landesverräterischer über das Pflichtenverhältnis von Volk und Regierungen geschrieben als J. G. Fichte, der Verfasser der Reden an die Deutschen.
Man konnte daher weder erwarten noch verlangen, daß die Juden aller Länder ihr Verhalten zum jetzigen Weltkrieg nach der gleichen Formel bestimmen lassen. Die große Masse der Juden Rußlands hatten kein Interesse daran, daß die zarische Militärkaste und Bureaukratie siegreich aus diesem Krieg hervorgingen, sie hatten für die Besserung ihrer Lage von deren Niederlage mehr als von deren Sieg zu erhoffen. Demgemäß waren z. B. die große Mehrheit der russisch-jüdischen Mitglieder der Sozialdemokratie der Vereinigten Staaten, wie Mr. Algernon Lee, der Delegierte dieser Partei, am 2. August 1916 auf der im Haag versammelten Internationalen Konferenz von Sozialisten neutraler Länder erklärte, „entschieden pro-deutsch“. Damit waren sie aber auch, da es sich um einen Koalitionskrieg handelt, geistig die Alliierten der Verbündeten Deutschlands und die Gegner der Alliierten Rußlands und hätten, um nur zwei Beispiele herauszugreifen, wo es darauf ankäme, praktisch zur Frage der Armenier gemäß dem Gesichtspunkt der türkischen Machthaber, zur Frage Belgiens gemäß dem Gesichtspunkt der Regierenden in Deutschland sich verhalten müssen. In welche Widersprüche sie dies mit den Grundsätzen bringen konnte, an deren allseitigem Sieg sie als Juden nicht minder wie als Sozialisten interessiert sind, und ohne deren Betonung ihre Betätigung als Mittler der Nationen nur Halbheit wäre, liegt auf der Hand. Ebenso klar ist aber auch, daß der englische oder französische Jude, der sich in diesem Kriege ausschließlich durch die Rücksicht auf die offizielle Politik Englands oder Frankreichs leiten läßt, infolge des Bündnisses dieser Länder mit Rußland mindestens zeitweilig an der Sache der Millionen vergewaltigter russischer Juden sich versündigen kann.
Hier erhebt sich also, sobald man den Juden als Zugehörigen der ganzen Judenheit nimmt, für die einen wie für die andern in politischer Hinsicht jener Widerspruch, für den es eine restlose Auflösung nicht gibt und für den auf philosophischem Gebiet der Ausdruck Antinomie geprägt wurde. Aber so wenig der wissenschaftlich forschende Philosoph es bei der einfachen Feststellung einer solchen Antinomie bewenden läßt, wie z. B. daß weder für noch gegen eine letzte Ursache des Weltgeschehens ein zwingender Beweis möglich ist, sondern sie auf einen immer kleineren irrationalen, d. h. unauflösbaren Rest zu verringern trachtet, so muß auch der von dem Bewußtsein für den Beruf seines Volks zur Mittlertätigkeit durchdrungene Jude danach trachten, den gekennzeichneten Widerspruch, der ja nicht die einzige Irrationalität dieses Krieges ist, auf sein geringstes Maß zu bringen. Und das ist in viel höherem Grade möglich, als es die meisten sich vergegenwärtigen.
Man muß nur sich die Mühe geben, über sein gefühlsmäßiges Urteilen sich Rechenschaft abzulegen, es auf klare Begriffe zu bringen und begrifflich zu unterscheiden. Erst dann ist auch ein Ausgleich möglich, der mehr ist als das bequeme Schwimmen mit dem Strom und zu besseren Ergebnissen führt als das trotzige Verbeißen darauf, die Dinge nur von einer Seite aus zu betrachten, das stets falsch ist, welche Seite immer man wähle. Es handelt sich darum, verschiedenartige Empfindungen, von denen jede ihr Recht hat, in ein richtiges Verhältnis zu einander zu bringen, und wenn wir dies wollen, müssen wir eben die Natur und das Recht jeder dieser Empfindungen begreifen.

V. ǀ
Der Natur des Objekts nach kann man zunächst zwei Arten von jüdischem Patriotismus unterscheiden: den Patriotismus von Juden für das Land, dem sie als Staatsbürger angehören, den man als Landespatriotismus bezeichnen kann, und das stärkere oder geringere Solidaritätsempfinden von Juden für die Judenheit im allgemeinen, das wohl am besten mit dem Wort Stammespatriotismus bezeichnet wird. Diese zwei Arten Patriotismus können in vielen Fällen nebeneinander bestehen, ohne sich gegenseitig zu beeinträchtigen, wie man Patriot der einen oder andern Art sein und dabei ohne Schädigung dieses Patriotismus Parteigänger von sozialen Bewegungen sein kann, die Angehörige verschiedener Länder umfassen. Nur in ihren gesteigerten Formen können sie nicht gleichzeitig das empfindungsmäßige Denken ein und derselben Person beherrschen. Der Jude, der französischer Chauvinist, englischer Jingo oder Alldeutscher ist, kann nicht zugleich mit voller Hingabe jüdischer Stammes-patriot sein, und umgekehrt. Denn es werden da immer Fälle eintreten, wo das eine Empfinden mit dem andern in Konflikt gerät und die aus dem einen Empfinden abgeleiteten Pflichten sich nicht mit den Pflichten vereinen lassen, welche das andere Empfinden vorschreibt.
Aber auch in ihrer einfachen Form können die beiden Empfindungen ihren Träger in Gewissenskonflikte bringen. Beispiele dafür hat es bisher schon oft gegeben, wenn sie auch selten erhebliche Bedeutung erlangt haben und kaum jemals zu einer Frage von allgemeinerem Interesse geworden sind. Heute ist das jedoch anders. Der oben erwähnte Umstand, daß der Weltkrieg die politisch vorgeschrittensten Großstaaten Europas als die Verbündeten der rückständigsten Großmacht des europäischen Ostens sieht, bringt Landespatriotismus und Stammespatriotismus vieler Juden in einen Konflikt, der dort, wie z. B. in Amerika, wo sie als Wähler in erheblicher Zahl in Betracht kommen oder sonst auf die öffentliche Meinung einzuwirken imstande sind, für die Gestaltung der Politik des Landes nicht gleichgültig ist.
Wenn, wie oben festgestellt wurde, die in Amerika eingewanderten russischen Juden oder deren Abkömmlinge gegen Rußland und für die Vormacht des europäischen Militarismus Partei nahmen und diese Parteinahme praktisch betätigten, so folgten sie damit zum Teil dem Nachempfinden für all das Üble, das sie oder ihre Angehörigen in Rußland erfahren haben. Und man wird nicht sagen können, daß, wenn sie auf diese Weise Rußland schädigten, dessen Gewalthabern damit ein sonderliches Unrecht geschah, welches immer die Beweggründe sein mögen, die diese diesmal in den Krieg ge­führt haben. Es würde dann nur ein Stück weltgeschichtlicher Sühne für Generationen hindurch begangenes, geduldetes und gefördertes Unrecht vorliegen, unter dem Hunderttausende bitter zu leiden hatten. Freilich kommen in Wirklichkeit nicht nur die Gewalthaber in Betracht. Was die Oberen verfehlen, müssen auch hier in der Hauptsache die Unteren ausbaden. In allen möglichen Variationen illustriert dieser Krieg das Horazische „Quidquid delirant reges plectuntur Achivi.“ Rationeller als die Parteinahme aus dem Verlangen nach Sühne und ethisch unanstößiger ist die Parteinahme im Hinblick auf die innerpolitische Entwicklung Rußlands. Hier folgen diejenigen Juden, von denen eben die Rede war, soweit nicht schlechthin revolutionäre oder entschieden bürgerlich demokratische Gesinnung sie treibt, Erwägungen des Stammespatriotismus. Sie erhoffen von der Niederlage des Zarismus eine innere Umwälzung, die auch der Hebung der gedrückten Juden Rußlands zugute kommen werde.
Ob diese Hoffnung auf durchweg richtige Voraussetzungen sich gründet, könnte nur die Erfahrung zeigen. Sie hätte alle Wahrscheinlichkeit für sich, wenn die gedrückte Lage der russischen Juden ausschließlich der zarischen Regierung und ihrer Bureaukratie zuzuschreiben wäre und der Krieg im russischen Volke ausschließlich als eine Angelegenheit des Zarismus empfunden würde. Das letztere ist aber ganz offensichtlich nicht der Fall. Der gegenwärtige Krieg ist beim liberalen Bürgertum Rußlands und den von ihm beeinflußten Kreisen womöglich noch populärer als bei den Konservativen, eine Schwächung des Nationalismus daher von einer Niederlage Rußlands kaum zu gewärtigen. Die größere Wahrscheinlichkeit spricht vielmehr dafür, daß der nationalistische Geist der Russen durch sie eine Verstärkung erfahren würde, wie dies ähnlich in Preußen nach dem Tilsiter Frieden und in Frankreich nach der Niederlage von 1870/71 der Fall war. Und ebenso ist es kaum richtig, die Judenverfolgungen, die Pogrome usw. Rußlands ausschließlich dem Zarentum auf Rechnung zu stellen, so groß dessen Mitschuld auch zweifelsohne ist. Hier kommen zugleich soziale Strömungen in Betracht, die ein durch eine Niederlage verursachter Regierungswechsel schwerlich aus der Welt schaffen wird. Man kann nur sagen, daß eine Niederlage Rußlands, da sie voraussichtlich die Ablösung Polens, Litauens und Kurlands vom russischen Reich zur Folge haben würde, für etwa zweiundeinhalb Millionen Juden immerhin eine Veränderung ihrer Lage bedeuten würde, von der erhofft wer­den kann, daß sie zugleich Verbesserung heißen wird. Erhofft, mehr kann man mit Sicherheit leider nicht sagen. Indes selbst das ist für viele Juden, die sich die Lage ihrer Stammesgenossen in jenen Gebieten zu Herzen gehen lassen, ein genügender Grund, die Niederlage Rußlands herbeizusehnen. Die mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit dieser Voraussetzung nun würde für das ethische Recht der aus ihr abgeleiteten politischen Folgerung vollständig entscheidend sein, wenn nicht noch andre Interessen als die des Judentums in Betracht zu ziehen wären. Vom Ausgang des Weltkriegs hängen jedoch gewichtige Interessen der ganzen Völkerfamilie des europäischen Kulturkreises, hängt das Wohl und Wehe, die Freiheit und das Recht auch noch anderer Völker und Völkerschaften ab. Wollte also ein großer Bruchteil des Judentums seine Stellungnahme in diesem katastrophalen Ringen ausschließlich von der Frage abhängig machen: was sichert mir oder den Meinen eine unmittelbare Genugtuung? ohne irgendwie sich darum zu kümmern, ob nicht diese Genugtuung untrennbar ist von der Zertretung anderer, so kann es leicht geschehen, daß die Geschichte im Verein mit jenen anderen ihm die Worte entgegenhält, die der große Dramatiker im „Kaufmann von Venedig“ den Dogen dem Shylock ins Gewissen rufen läßt: „Wie hoffst du Gnade, so du keine übst?“
Es kommt eben noch der Gesichtspunkt in Frage, der es erlaubt, von einer dritten Art Patriotismus zu sprechen, und das ist der oben schon behandelte kosmopolitische oder, besser ausgedrückt, weltbürgerliche Gesichtspunkt. Wie das Judentum als Einheit begriffen durch die ihm von der Geschichte zugewiesene Lage tatsächliches Weltbürgertum ist, so ist das weltbürgerliche Bewußtsein, das keinem Kulturmenschen fremd sein darf, dem Juden, der nicht die Assimilation so weit treibt, die Erinnerung an seine Herkunft mit Füßen zu treten, ein Stück Erbe, das ihm stets gegenwärtig sein sollte, wenn er zu Fragen der großen Völkerpolitik Stellung zu nehmen hat. Er muß auch weltbürgerlichen Patriotismus kennen und empfinden. Das Wort mag manchem paradox klingen, weil man sich daran gewöhnt hat, Weltbürgertum und Patriotismus als Gegensätze aufzufassen. Sie sind dies aber nur dann, wenn man sie in ihre Extreme zuspitzt, wo Weltbürgertum nur Weltbummlertum bedeutet und Patriotismus nur ein mißbräuchlich angewendetes Wort für einen nationalistischen Partikularismus ist. Die nicht selten anzutreffende Auffassung, die jetzt leidenschaftliche Vertreter in einem Flügel der radikalen Sozialdemokratie gefunden hat, nämlich, daß im Angesicht der neuzeitlichen Entwicklung des Verkehrs der Patriotismus ein überlebtes, rückständiges Empfinden sei, ist durchaus hinfällig. Der gesteigerte Verkehr kann den Patriotismus so wenig aus der Welt schaffen, wie er die Nationen aus der Welt schafft. Er gibt ihnen nur eine andre Bedeutung.
Der Patriotismus ist als der politische Ausdruck eines natürlichen Zusammengehörigkeitsgefühls ebenso unter dem Gesichtspunkt des Zweckes zu rechtfertigen, wie er ursächlich begründet ist. Nur muß er, welcher Kategorie er immer angehöre, um nicht der fortschrittlichen Entwicklung entgegenzuwirken, sozial begriffen und geübt werden. Ist dies der Fall, so ist es auch kein Widerspruch, von einem weltbürgerlichen Patriotismus zu reden. Kein großer Volksstamm und keine Nation leben so außerhalb des großen Ganzen der Kulturmenschheit, daß sie nicht von ihm empfingen und ihm gegenüber Pflichten hätten. Pflichten aber bilden die sittliche Grundlage alles echten Bürgertums, das Wort in seinem weiteren, über die Klasse hinaus greifenden Sinne verstanden. Nicht die nationale oder ethnologische Wurzellosigkeit machen den Weltbürger, sondern das mit einem bestimmten Pflichtbewußtsein verbundene Gefühl der Zusammengehörigkeit mit der großen Völkerfamilie, die den geistigen Kosmos unseres Planeten bildet. Und weil dieser Kosmos kein formloses Durcheinander ist, sondern auf dem geordneten Neben- und Miteinander von Völkerschaften und staatlich organisierten Nationen beruht, ist das weltbürgerliche Empfinden kein Widerspruch gegen den nationalen oder ethnologischen Patriotismus, sondern deren zulässige und mit dem Aneinanderrücken der Völker notwendige Ergänzung. Niemand hat sich dessen mehr bewußt zu sein als der Jude und der Abkömmling von Juden. Wie immer sie es mit der Religion halten, wie innig sie mit der Nation und für die Nation empfinden mögen, der sie als Mitbürger zugehören, mit wie großer Anhänglichkeit immer sie das Bewußtsein ihrer Stammeszugehörigkeit rege erhalten mögen, so ziemt es ihnen doch, neben dem Landes- und Stammespatriotismus das weltbürgerliche Empfinden hochzuhalten, jene durch dieses zu läutern und zu ver­edeln. Nicht, weil sie die Gewalt nicht ausüben können, wie es im Artikel der „Nation“ heißt, sondern auf Grund der Geschichte ihres Volkes sind die Juden die geborenen Pazifisten. Ihre Geschichte weist ihnen die Aufgabe zu, das zu pflegen, was die Völker verbindet, und dem entgegenzuwirken, was sie trennt und Haß zwischen ihnen säet. Sie befähigt sie und gebietet ihnen, die Kämpfe der Zeit in ihrem großen Zusammenhange zu erfassen, nach deren Endresultat für das Zusammenleben der Gesamtheit der Kulturwelt zu fragen und der Antwort gemäß ihre Stellung zu bestimmen. Wenn sie in diesem Sinne wagen, „sie selbst zu sein“, werden sie, mögen sie noch so oft mit dem Mode- und Klassen-Patriotismus in Widerspruch geraten, überall sich an der Seite der tief und echt empfindenden Patrioten finden, die im Gegensatz zu den Erben des Cäsarenwahns ihr Volk vor allem geachtet und geliebt sehen wollen.
Und noch eine zweite Erinnerung verweist den Juden an die Seite derer, die Mittler der Nationen zu sein streben. Es ist der innere Zusammenhang der sozialen Befreiungsbewegungen unserer Zeit mit den Bewegungen für die allseitige Durchführung des Gedankens der Verbundenheit der Völker in der Gegenwart. Braucht es noch einer besonderen Darlegung, um erkennen zu lassen, warum der Jude, unbekümmert um seine persönliche Klassenlage, seine privaten materiellen Interessen, jenen sozialen Befreiungsbewegungen nicht fremd und teilnahmslos gegenüber stehen darf? Das Hauptgebet der jüdischen Religion enthält den Satz, der, in seiner vollen Bedeutung erfaßt, das kategorische Pflichtgebot für den Juden ausdrückt, für sie mit größter Hingebung einzutreten und in ihrem Sinne als Mittler der Völker sich zu betätigen:

Gedenke, daß du ein Knecht warst in Ägypten !

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Der sozialdemokratische Politiker Eduard Bernstein (geb. 6.1.1850; gest. 18.12.1932 in Berlin) "zählte schon vor dem 1. Weltkrieg zu denjenigen Sozialisten, die aufgrund ihres reformistischen Konzepts die zwischen Sozialdemokratie und Pazifismus bestehenden Schranken zu überwinden vermochten … Als erster Sozialdemokrat seit 1912 in der Friedens-Warte publizierend, verteidigte er den wissenschaftlichen Pazifismus von A.H. Fried gegen Attacken aus dem radikalen Lager seiner Partei. Obwohl er den Kriegskrediten zustimmte, erkannte er früh im kaiserlichen Deutschland den eigentlichen Schuldigen am Ausbruch des Ersten Weltkrieges und schloss sich als eines der ersten zehn Mitglieder dem Bund Neues Vaterland (BNV) an. Auch der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) trat er bei. 1915 wurde er Mitglied des ‚Internationalen Rates’, eines Organs der im Frühjahr in Den Haag gegründeten Zentralorganisation für einen dauernden Frieden. Am 19. Juni 1915 veröffentlichte er mit H. Haase und K. Kautsky in der Leipziger Volkszeitung den Aufruf ‚Das Gebot der Stunde’, in dem ein sofortiger Verständigungsfrieden gefordert wurde. Als einen der 40 Unterzeichner des Gründungsaufrufes der ‚Zentralstelle Völkerrecht’ (ZV) wählte ihn deren Gründungsversammlung 1916 in die Geschäftsleitung. 1917, als er sich der USPD anschloss, gehörte er zu den Teilnehmern des Kongresses zum Studium der Grundlagen eines künftigen Friedens in Bern. Im gleichen Jahr entwarf Bernstein eine ‚sozialdemokratische Völkerpolitik’, deren Ziel ein demokratisch fundierter ‚Bund der Völker’ sein sollte. - Nach 1918 war Bernstein […] Mitglied der Geschäftsleitung der DFG. Ebenso gehörte er dem Internationalen Ehrenausschuß des … Bundes für Menschheitsinteressen an und war Mitglied des Präsidiums der Deutschen Liga für Völkerbund (DLV). Bernstein, der unbeirrbar an der Feststellung der Alleinschuld Deutschlands am Krieg festhielt, registrierte - vor allem auf dem im Juni 1919 stattfindenden Parteitag der SPD - enttäuscht den Unwillen der Partei, dieser Forderung zu entsprechen …" (Lothar Wieland, in: H. Donat/K. Holl: Die Friedensbewegung. Handlexikon 1983).